Sonntag, 30. August 2009

29.8.2009: Dresden - Heidenau - Altenberg und zurück

Es gibt Tage, die viel zu schade sind, um mit Alltagskram verbracht zu werden. Der vergangene Freitag war so einer; am liebsten wäre ich schon am frühen Morgen auf mein Rennrad gestiegen, um hinaus aus der Stadt und ins Grüne zu fahren. Ich nahm dann ein anderes Rad und fuhr ins Büro, mein Vorhaben für den Sonnabendmorgen stand aber von jenem Moment an fest.

Am Vorabend hatte ich wie vor jeder längeren Tour Luft aufgepumpt, beim Rennrad ist das noch wichtiger als bei anderen Fahrrädern. Kurz vor sechs Uhr brach ich auf.
Als Ziel hatte ich Wehlen in der Sächsischen Schweiz anvisiert; von mir zuhause bis dorthin sind es etwas über 20 Kilometer. Rennradfahren ist nicht so bequem wie das Fahren mit einem gefederten Tourenrad, es geht vor allem um Leichtigkeit und Schnelligkeit, deshalb wird auch am Komfort gespart, weswegen das Fahren auf unebenen Strecken nicht zu empfehlen ist. Der Elberadweg eignet sich hervorragend für eine Rennradtour. Ich hatte mal wieder Lust, in östlicher Richtung aus der Stadt zu fahren. Das bedeutet, weil ich dicht an der nordwestlichen Stadtgrenze wohne, eine längere Fahrt durchs Stadtgebiet, aber von Tolkewitz an bis Wehlen ist der Elberadweg sehr schön und landschaftlich reizvoll. Eine Vergnügungsfahrt mit einem Mindestziel stand also in Aussicht.

Die Sonne ging über den Elbhängen auf, als ich mich kurz vor Pillnitz befand. Es war kühl und windstill, die Elbe floss träge und spiegelglatt dahin. Ich war eine Weile nicht mit dem Rennrad gefahren und hatte meine Freude daran, wie schnell es auf Tempo zu bringen war. Der Himmel war leicht bewölkt, es versprach kühler zu werden als in letzter Zeit. Optimale Bedingungen waren das, und ich dachte an ein Wunschvorhaben, das ich seit langem schon hegte und für diesen Tag, um ehrlich zu sein, auch schon ins Auge gefasst hatte. In Kleinzschachwitz hatte ich auf einmal zwei sportlich gestylte ältere Herren mit ihren Tourenrädern vor mir. Sie fuhren mir ein wenig zu langsam, aber nicht so langsam, dass ich mühelos einen größeren Vorsprung würde erreichen können, wenn ich sie überholte. Ich hätte sie zur Seite klingeln müssen und spätestens beim nächsten Halt wieder vor mir gehabt. Während ich mich in Geduld übte und erst einmal hinter ihnen blieb, sah ich die Höhenzüge, die sich oberhalb von Heidenau abzeichneten. In die Berge fahren wollte ich lange schon. All das zusammen, das gute Wetter, das schnelle, gebirgstüchtige Rad, meine Unternehmungslust und nicht zuletzt die gestylten Opis auf dem Elberadweg ließen mich den Entschluss fassen, nach Heidenau abzubiegen und Richtung Erzgebirge zu fahren.

Die bequemste Strecke ins Erzgebirge führt meiner Meinung nach durchs Müglitztal, und dort fuhr ich hoch. Bisher war ich nur mit Bus, Bahn oder als Kind mit dem Auto dort hinaufgefahren und wusste, dass sich dieses Tal sehr in die Länge zieht. Altenberg, Endhaltestelle der Müglitztalbahn, ist 38 Kilometer von Heidenau entfernt. So weit wollte ich eigentlich nicht fahren, obwohl sich der Ort als Zielpunkt sehr lohnend anhört. Altenberg ist nicht nur ein bekannter Ferienort, sondern auch relativ hoch gelegen, was schöne Ausblicke in die Umgebung ermöglicht. Aber ich nahm mir Geising, unseren Lieblings-Erzgebirgs-Ferienort, als Höchstziel vor und wusste, dass es eine Herausforderung für mich sein würde, dorthin zu kommen. Und Herausforderungen sind es ja, die ich hin und wieder bei solchen Touren suche. Oftmals möchte ich einfach nur fahren und die Landschaft genießen, aber an manchen Tagen möchte ich mich richtig fordern. Und an diesem Sonnabend war ich nicht nur ehrgeizig, sondern kampflustig.

Dohna, gleich hinter Heidenau gelegen, war schnell erreicht, weiter ging es leicht bergauf bis Wesenstein. Normalerweise bin ich schaltfaul, aber bei der Fahrt ins Gebirge lernte ich die Vorteile der Schaltung kennen; sie kann enorm Kräfte sparen helfen.

Gegen sieben Uhr war ich in Zschieren gewesen, am östlichen Stadtrand von Dresden; 9.15 Uhr war ich in Glashütte. Dieser Ort ist durch sein Uhrenhandwerk bekannt; Sten Nadolny hat ihn nicht nur in seinen Poetikvorlesungen, sondern auch in seinem Roman „Er oder Ich“ verewigt.

Ich überlegte, ob ich weiterfahren sollte, denn ich hatte mich schon einigermaßen verausgabt. Der Bauch tendierte zu nein, aber der Kopf wollte weiter, weiter bis Geising. Ich brach nach einer relativ kurzen Pause wieder auf. Nach ein paar Kilometern erreichte ich Bärenhecke, und mit einem Mal sah ich einen Wegweiser „Altenberg - Geising“ rechts von mir. Die Straße führte den Berg hinauf. Nun, dachte ich mir, also dort entlang. Ich tat mein Bestes, schaltete herunter, musste dann aber doch vom Rad und schieben. Mir fiel ein, dass ich weiter durchs Müglitztal hätte fahren können, wollte aber weiter auf der noch unbekannten Strecke bleiben. Steiler und steiler ging es hinauf, an Fahren war erst einmal nicht zu denken. Aber die Aussicht auf einen schönen Rundblick reizte mich. Noch bevor ich auf der ersten Anhöhe ankam, musste ich das rechte Knie bandagieren, das nicht mehr so richtig wollte: ein typisches Zeichen von Überlastung. Bei längeren Touren habe ich die Sportbandage meist dabei, hatte sie aber in diesem Jahr noch nicht benötigt.

Ich stieg, sobald es möglich war, wieder aufs Rad und fuhr nach Johnsbach hinein. Dieser Ort liegt in einer Niederung inmitten einer Hochebene, es ging also wieder ein Stück hinunter und danach wieder hinauf. Auf der Höhe war es drückend schwül, ich schaffte den Anstieg mit dem Rad nicht, aber das Laufen war wegen des lädierten Knies auch beschwerlich, und die Bandage half kaum noch.

Irgendwann blickte ich mich um und hatte wirklich eine sehr schöne Aussicht nach allen Seiten. Der nächste Wegweiser zeigte nur noch Altenberg an und nicht mehr Geising. Ich ahnte, dass ich auf einer Art Kammstraße gelandet war und vielleicht gar keine Möglichkeit mehr haben würde, abzukürzen. Ich schalt mich eine Idiotin. Sollte ich eine Panne haben, ging es mir durch den Kopf, würde ich nicht einmal mehr das Rad zur nächsten Bahnstation schieben können, denn die Bahnstrecke verlief im Tal, und ich hatte mich weit davon entfernt. Aber dann ging es ein ganzes Stück bergab, plötzlich schmolzen die Kilometer wie von selbst dahin, und das war wieder Rennradfahren, wie es Freude macht, schnell und leicht fliegt man über den Asphalt dahin.

Plötzlich sah ich den Geisingberg links von mir liegen. Hinter dem Geisingberg liegt Geising, aber links herum führen nur Wanderwege, und rechts vom Geisingberg führte die Straße, auf der ich noch abwärts fuhr, wieder aufwärts Richtung Altenberg. Ich hatte keine andere Wahl, als auf der Straße zu bleiben. Unten im Tal begann Hirschsprung. Durch diesen Ort waren wir beim letzten Erzgebirgsurlaub gewandert, und so wie wir damals gegangen waren, ging ich nun auch, das Rad schiebend, Richtung Altenberg. Das Laufen wurde immer beschwerlicher, und ich war froh, als ich wieder aufsteigen und fahren konnte. Aber es dauerte nicht lange, und vor mir lag der letzte steile Anstieg. Da hieß es: Zähne zusammenbeißen, und, aufs Rad gestützt, langsam hinauf. Ich kümmerte mich schon gar nicht mehr darum, wie albern das aussehen musste, ein Rennrad so langsam bergauf zu schieben. Oben ankommen war das Ziel.

In Altenberg kannte ich mich soweit aus, dass ich die Straße nach Geising mühelos fand. Wir sind sie schon ein paar Mal hinunter gelaufen, und nun fuhr ich, den im Tal liegenden, wunderschönen Ort vor Augen. Ich hätte jubeln können. Um mich herum war auf einmal viel Verkehr, Autos, Lastwagen, Motorradkonvois, so dass ich darauf verzichtete, in Geising anzuhalten. Ich fuhr direkt ins Müglitztal und machte erst an einem geeigneten Platz Halt. Das Müglitztal ist zwar lang, aber ich konnte das Rad weitgehend rollen lassen und war zuversichtlich, gut bis Heidenau zu kommen.

Am Morgen war es beinahe windstill gewesen, aber nun hatte ich spürbaren Gegenwind und konnte nicht ganz aufs Pedalentreten verzichten. Aber es war eine Freude, zu spüren, welch geringen Widerstand dieses leicht gebauten Rad dem Wind entgegensetzt. Legt man sich richtig hinein, ist Gegenwind, zumindest talwärts, fast kein Hindernis. Ich fuhr so kräftesparend wie möglich, ließ mich rollen, so gut es ging, kam mir wie eine lahme Ente vor – denn das Rad hätte schneller gekonnt – und fand es allmählich grenzwertig, was ich tat. Es war recht kühl, beinahe herbstlich geworden, und der Wind trieb herabgefallene Blätter über die Straße.

In Heidenau fährt halbstündig die S-Bahn nach Dresden. Die Bahn zu nehmen, sagte eine Stimme in mir – ob Bauch oder Kopf, konnte ich nicht mehr ermessen -, ist das einzig Vernünftige. Bis dorthin und nicht weiter. Aber es gab auch eine Gegenstimme, die mich antrieb: Heidenau ist beinahe schon Dresden, und wenn du es bis dorthin geschafft hast, schaffst du es auch bis nach Hause.
Glashütte, Wesenstein, Dohna, Heidenau – und hinunter zur Elbe. Mittlerweile war auch das Fahren schmerzhaft, aber ich war stur und wollte aus eigener Kraft heimkommen.

Für Momente wie diese braucht man Vorbilder. Ich dachte an eine Freundin, von der ich gelernt habe, dass Frauen, wenn sie wollen, überall hinkommen können, und dass Abenteuer viel zu reizvoll sind, um sie den Männern zu überlassen. Dies war nun die ersehnte Grenzerfahrung, für die ich keinen Cent zahlen musste, also riss ich mich zusammen.

Ist man ausgeruht, sind fünfzehn Kilometer ein Nichts. Ist man aber erschöpft und hat dazu Gegenwind, können fünfzehn Kilometer sehr lang sein. Ich machte noch drei kurze Pausen. Laufen, und sei es nur ein paar Schritte zur Bank, ging kaum noch, Radfahren nur mit Mühe. Ich überholte noch ein paar Sonntagsfahrer, aber nur diejenigen, die in Zeitlupentempo fuhren. Es ging nicht mehr um Schnelligkeit. Zu Hause ankommen war das Ziel. Ich zählte die Stadtteile: Zschachwitz, Laubegast, Tolkewitz, Johannstadt, wo ich die Elbe überquerte, Stadtzentrum, endlich Dresden-Nord. Gegen 13.30 Uhr hatte ich es geschafft – und war geschafft.

Mit dieser Tour habe ich mich eindeutig übernommen, aber im Grunde habe ich es so gewollt. An manchen Tagen will man wissen, was man sich zumuten kann. Gelernt habe ich einiges, so, dass man in den Bergen nicht nur eine Gangschaltung benötigt, sondern auch Muskeln, die erst aufgebaut werden müssen. Aber wichtiger war es, zu erleben, wie der Körper „Schluss“ sagt und wie es dann noch fünfzig Kilometer lang weiter gehen kann – an gewissen Tagen, wohlgemerkt.

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